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Big Brother so nah

Unser Sohn hat uns während des Lockdowns gezeigt, dass auch ein Jugendlicher mit Lernschwierigkeiten in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen seine Tage nicht unbedingt isoliert verbringen muss. Beziehungsweise in seinem Drang sich mitzuteilen, nicht zur Gänze auf den Mini-Kosmos Familie angewiesen ist. Das würde nämlich die sanfteste Mutter umhauen.

Mein jobbedingt konzentrierter Blick auf den Computerbildschirm scheint meinem Sohn jedenfalls stets zu signalisieren: „Bitte erzähl mir was. Stell mir Fragen. Denke laut. Singe. Lache. Egal. Aber sei auf keinen Fall leise.“ Nun, es gibt ein Entkommen. Dafür stehen drei Szenarien zur Verfügung: eine Ansage, dass ich jetzt absolute Stille brauche. Gewürzt mit einer Prise Schärfe hält das im Schnitt für fünf Minuten. Oder ich setze mir demonstrativ unsere Over-Ear-HD-Kopfhörer-mit-optimaler-Außengeräuschdämpfung auf und versuche mich mittels meiner mies bestückten Mediathek und den immer gleichen Musikschleifen zu fokussieren. Oder aber: Valentin verzieht sich freiwillig ins Zimmer, um dort seinem Plauderbedarf via worldwide web zu frönen. Dabei kam es letzthin zu folgender kabarettreifer Szene ...

Es ist Donnerstag, kurz vor 16:00 Uhr. In wenigen Minuten beginnt Valentins Videochat mit seiner Lerngruppe. Mein Sohn, der noch mit seinem Freund am Facetimen ist, deutet mir, er würde das laufende Telefonat gleich beenden und verzieht sich mit dem iPad ins Zimmer. Zehn Minuten später will ich sichergehen, ob alles geklappt hat. Siehe da, die Videokonferenz ist übers iPad in vollem Gange. Allerdings ist auch Valentins Handy noch im offenen Videotelefonie-Modus, wenngleich besagter Freund aus dem Sichtfenster verschwunden ist. Dafür zeigt dieses einen menschenleerer Raumausschnitt und aus dem Off hört man lautstark seine Mama mit der besten Freundin telefonieren. Eine private Plauderei also, exklusiv ins Zimmer meines Sohnes gestreamt, zum Mithören für alle, die wiederum in ihren privaten Wohnungen sitzen und via ZOOM-App ins Zimmer meines Sohnes geschaltet sind ... Fast panikartig verpasse ich dem Handy den kompletten Shutdown. Nicht ohne mich zu fragen, wie oft in den letzten sieben Wochen meine privaten Gespräche ungewollt in alle möglichen Haushalte übertragen wurden. Big Brother so nah. Am Abend schalte ich alle Geräte aus und lasse meinen geheimsten Gedanken freien Lauf. Und singe ganz für mich, ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.