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Kommando Hadschime

Unser Erstgeborener (Valentin, pubertierende 17, Down-Syndrom) befindet sich aktuell im wohl schwierigsten Übergang im Leben eines Menschen mit Lernschwierigkeiten: Die schulischen Bildungsmöglichkeiten sind alle so gut wie ausgeschöpft (was leider viel zu schnell der Fall ist!) ...

... und fürs Berufsleben fehlt es sowohl an gereifter Arbeitsmoral als auch – zumindest bis jetzt –  an passenden Stellenangeboten. Also ist Kreativität angesagt, denn mein Sohn ist ein leidenschaftlicher Socializer, er mag es gern gesellig und unterhaltsam. Als Mama ist man da ganz schön gefordert. Denn gleich nach der Klärung, was zu mittags und zu abends auf den Tisch kommt, folgt die mit Nachdruck gestellte Frage, was am Nachmittag auf dem Programm steht. Deshalb haben wir sein voraussichtlich letztes Schuljahr mit einer Freizeitagenda flankiert, die sich gewaschen hat: Theaterkurs, Schlagzeugunterricht, Elementare Musikpädagogik, Karatestunden, Tanzhaus-Training. Damit ist er ganz schön eingeteilt. Valentins Freizeitengagement war bis vor Kurzem intensiver als das der restlichen Familienmannschaft zusammen. Und dann kam Covid-19. Spätestens am Freitag, den 13. (März) wurde mir klar: Vorerst wird nichts so bleiben. Unser ganzes Beschäftigungs- und Freizeitkonstrukt implodierte. Auch, dass er weder seine geliebten Großeltern noch seinen besten Freund besuchen durfte, wollte Valentin erst gar nicht in den Kopf. Ratlos fragte ich mich, wie er – und damit auch wir – die nächsten Wochen wohl überstehen würden. Nun, nach sechs Wochen Social Distancing und Wegbrechen aller mühsam organisierten Freizeitstruktur, muss ich erstaunt feststellen: Dieser Kerl kann sich neuen Gegebenheiten doch besser als erwartet anpassen. Das bleibt ansonsten oft genug hinter seinem beharrlichen Verhandeln um „beste Tagesprogramme“ verborgen. Valentin hat nämlich feine Sensoren für das, was vielleicht doch noch gehen könnte, selbst wenn schon ein „Nein, heut lieber nicht“ ausgesprochen wurde. Er weiß die kleinen Schlupflöcher zu nutzen, die entstehen, wenn man nicht klar und deutlich kommuniziert – oder sich selber nicht ganz sicher ist, wie konsequent man sein will. Da unsere Regierung aber sehr konsequent mit uns allen war, blieb da auch für Valentin nicht mehr viel Schlupfloch. Das kollektive Herunterfahren hat auch ihn ergriffen. Und oh Wunder: Sein neuer Alltag bleibt bislang zum größten Teil von Langeweile verschont. Leidenschaftliches Schlagzeugspielen, Rauf-und Runterhören seiner derzeitig heiß geliebte Ärzte-CD, viel Videotelefonie mit seinem besten Freund plus regelmäßige Zoom-Konferenzen mit den Personen seines Vertrauens halten ihn – und uns! – auf Trab. Es ist kein Wunschzustand, oh nein, aber es gibt mir das Gefühl, Valentins soziales Netz hält auch diesem außerordentlichen Notbetrieb stand. Wenn seine Musiklehrerin mit ihm gemeinsam über WhatsApp Klavierstücke ausprobiert, wenn die IfS-Begleiterin eine Internet-Tratschrunde mit den Jugendlichen organisiert, wenn sich die Theatergruppe virtuell trifft, dann facetimet er so selbstverständlich, wie es mir in diesem Leben nicht mehr gelingen wird. Und gar sportlich wird es, wenn er sich ins Karate-Outfit schmeißt, um bei „Karate ohne Handycap“ dem Versammlungsverbot den Kampf – oder vielmehr die Kampfkunst – anzusagen. Dann, wenn sich Eva und Stefan von „Karate Bregenz“ in unser Haus zoomen und Valentin aus der Chill- und Chatzone herausholen, heißt es „Kommando Hadschime.“ Hajime ist das japanische Wort für Anfang. Anfang ist gut! Oder noch besser: Ein Wieder-Anfang!