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Das denkende Herz

„Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Das große Leid überall treibt einen dazu, sich zu schämen, dass man sich selbst mit all seinen Stimmungen so ernst nimmt.“ Ich war wie elektrisiert, als ich diesen Satz las, vor allem in Anbetracht dessen, aus wessen Feder er stammt. Er bringt auf den Punkt, was ich in den vergangenen Wochen von vielen Menschen in unterschiedlichen Formulierungen hörte und auch selbst mehrfach einzuordnen versuchte:

Wieviel meines persönlichen Unwohlseins, meiner Sorgen, aber auch meiner Fröhlichkeit sind angebracht angesichts des Leides auf der Welt, das durch den Ukrainekrieg so bedrohlich in unser Bewusstsein dringt? Es war eine junge jüdische Frau aus den Niederlanden, die vor 80 Jahren diesen Satz in ihr Tagebuch schrieb. Mitten im zweiten Weltkrieg hat sie ein Dokument hinterlassen, das vor Mut, Ehrlichkeit und einem unbändigen Ja zum Leben nur so strotzt: Etty Hillesum schreibt sich in sehr persönlichen Aufzeichnungen („Das denkende Herz“) von der Seele, was sie berührt und bewegt. Im November 1943 wird sie in Ausschwitz ermordet. Es fasziniert, wie sehr die junge Frau darum ringt, den Grausamkeiten des Krieges ihre Zuversicht, ihre Liebesfähigkeit, ihren Glauben an das Gute entgegenzustellen. Ihre eigene Seelenwelt ernst zu nehmen, selbst ihre Launen und weniger hehren Gefühle und Gedanken – und wie sie es schafft, sich nicht der Angst unterzuordnen, sich nicht vom Krieg dominieren zu lassen. Etty Hillesum schreibt weiter: „Aber man muss sich selbst weiterhin ernst nehmen, man muss selbst im Mittelpunkt bleiben und versuchen, mit allem, was in der Welt geschieht, fertig zu werden. Man darf die Augen vor nichts verschließen, man muss sich mit dieser schrecklichen Zeit auseinandersetzen und versuchen, eine Antwort zu finden auf die vielen Fragen von Leben und Tod, die diese Zeit einem stellt.“