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Würde ich …?

Ich versuche mir vorzustellen, wie das ist: Gestern möglicherweise noch verärgert gewesen zu sein, weil mein Jüngster das Hausaufgabenheft verloren hat und der Handwerker nicht gekommen ist und heute wegen Bombenalarms im Keller meines Nachbarn Unterschlupf finden zu müssen. Gestern möglicherweise noch mit meinem Mann über neue Balkonmöbel oder den Sommerurlaub nachgedacht zu haben und heute allem Alltag beraubt, für ein Brot eine Stunde unter Lebensgefahr anstehen zu müssen.

Gestern möglicherweise noch mit meiner Freundin bei einer gemütlichen Tasse Tee darüber geseufzt zu haben, dass wir zu wenig Zeit für die wirklich schönen Dinge des Lebens haben und heute am Abgrund stehend das Unwirkliche nicht fassen könnend. Und das alles, weil dem Land, in dem ich lebe, der Krieg erklärt wurde, von einem Machthaber, dem abgesehen von eigenen Interessen, nichts heilig und alles zuzutrauen ist. 

Ich versuche mir vorzustellen, wie das ist: Heute in den frühen Morgenstunden von einer Nachricht getroffen worden zu sein, die alles, mein ganzes Leben, meine Werte, mein Dasein wie einen Ballon platzen lässt und mir den Boden unter dem wegzieht, was ich mir aufgebaut habe: eine Familie, ein soziales Netz, einen Ort zum Wohnen, Werden und Sein. Eine berufliche Heimat. Alles Liebgewonnene, Vertraute, Haltgebende. Würde ich vor Angst gelähmt sein oder in Aktionismus verfallen? Würde ich laut klagen oder leise weinen? Schreien oder erstarren? Was würde ich meinen Kindern sagen? Wieviel Angst würde ich ihnen gegenüber zugeben, vor welcher Panik sie schützen können? Würde ich überlegen zu fliehen oder würde ich ohne zu überlegen fliehen? Und wenn ich flöhe, was würde ich mitnehmen? Wären dieselben Dinge im Kofferraum wie auf unseren Urlaubsreisen? Könnte ich beim Zusammenpacken einen kühlen Kopf bewahren? Welche Dinge und Dokumente hätten Relevanz? Würde ich davor noch alle Lebensmittel an die Nachbarn verteilen, würde ich das Haus verriegeln, Wertgegenstände oder das Private verstecken? Ginge es mir vielleicht wie jenem Unternehmer, dessen Büro sich in einem der Türme des World Trade Centers befand und der inmitten des Infernos von 9/11 noch die Bürotür absperrte, bevor er mit seinem Team aus dem einstürzenden Gebäude nach draußen flüchtete? Wieviel Macht hätte noch die Gewohnheit? Wie lange würde ich versuchen, zu retten, was noch zu retten ist? Und wann würde ich beginnen, Gewissheiten und Habseligkeiten über Bord zu werfen, eine nach der anderen, als würde man einer Zwiebel Schicht für Schicht abschälen? Schalen dessen, was mein Leben ausmachte? Ich stelle mir vor, wie es vielleicht noch einen Streit meiner Kinder vor dem Auto gäbe, ob der Kleiderkoffer meiner Tochter, die Fußbälle des Jüngsten oder die DVD-Sammlung des Großen Mitnahme-Berechtigung hätten, ein letztes Aufbäumen gegen das Loslassen der Banalitäten, so, als würde man sich den Luxus der kleinen Sorgen weiterhin leisten wollen, als Sicherheitsschild gegen das große verheerende Unbekannte. Womöglich würde es mich selbst schmerzen, geliebte Dinge, die vielen gekauften aber noch ungelesenen Bücher, zurückzulassen. Oder wäre für solch Belangloses gar keine Zeit mehr, weil die Gefahr bereits so nah ist, dass der Fluchtreflex alle Bedürfnisse auf das eine zusammenschrumpfen ließe: Leib und Leben zu schützen, rauszukommen aus der Gefahrenzone, meine Kinder zu retten?

Ich versuche mir vorzustellen, wie das ist: Meinen Mann an der Grenze zurückzulassen. Meinen Mann, dem alles Uniformierte suspekt ist und der nun als Soldat in den Krieg ziehen soll? Ihn, den ich mir nicht einmal verkleidet im Fasching mit einem Spielzeugrevolver vorstellen kann? Würde ich ihn überreden, sich über die Grenze zu schmuggeln oder würde ich ihn bekräftigen, unser Land zu verteidigen? Was würden die Kinder sagen? Welche unausgesprochenen Ängste, welche Vorwürfe würde ich in ihren Augen lesen und dabei wissen, dass ich dem nur eine leise, rein theoretische Hoffnung gegenüberstellen kann? Hoffnung, die aufzubringen ich aber vielleicht gar nicht leisten kann, weil ich innerhalb von vierundzwanzig Stunden mehr verloren habe, als ich mir aufgebaut habe. Auch die Zukunft. Wie ein elektrischer Kurzschluss, der alle Haushaltsgeräte von einer Sekunde auf die andere lahmlegt, wäre wohl auch dem Zukünftigen, allem Visionären in mir, der Stecker gezogen worden. Statt Optionen gellte mir ein unheilvolles Schwarz entgegen. Lange würde es dauern, dieses Schwarz in das weiße, unbeschriebene Blatt Papier umzuwandeln, das ein neues Kapitel beginnen ließe, wenn überhaupt – ja, ein langer, schmerzhafter Prozess, zumindest das ahne ich zu wissen.

Ich versuche mir vorzustellen, wie das ist: Statt zu fliehen, dortzubleiben, verzweifelt mithilfe eines Internet-Rezepts Molotowcocktails zu basteln, Essen zu beschaffen für die Kinder, den Fliegeralarm zu hören, zwischen Panik, Hysterie und fatalistischer Gelassenheit hin und her zu schwanken, einem neuen Alltag, der aufs Überleben programmiert ist, Einlass zu gewähren. Der Fratze Krieg etwas, mich, entgegenzuhalten. Wäre ich bereit zu sterben? Und würde ich mir einen letzten Rest Humor bewahren können? Wie jener Ukrainer, der – in einer unter Beschuss stehenden Stadt für diese kämpfend – in einer deutschen Nachrichtensendung davon erzählte, dass sie sich den Humor nicht nehmen ließen? Wer lacht, hat keine Angst, hört man aus der Psychologie. Humor und Heiterkeit also für ein paar seelenvolle Hier und Jetzt-Momente als einzigen Zufluchtsort, um nicht wahnsinnig vor Angst zu werden? Oder würde ich den Mut verlieren und täglich über Stunden apathisch auf mein Handy starren, sofern ich überhaupt noch Akku und Netz hätte? Und wie würde ich die Kälte aushalten, diese Winterkälte, die in den nicht mehr beheizbaren Mauern einzieht und von meinem Körper Besitz einnimmt? Und den Hunger? Und den Gestank? Und wie würde ich es schaffen, mir mit schwindender Hoffnung auf Besserung mein Menschsein zu bewahren? 

Und dann versuche ich mir auch noch vorzustellen, wie das folgende ist: Meine Familienmitglieder im Nachbarland anzurufen, ihnen Videos von den Bombardements zu schicken, ihnen zu erklären, dass weder Krieg noch neue Herrschaft von uns gewollt ist und wir nur eines im Sinn haben: in Frieden zu leben, in Frieden gelassen zu werden. Und zu erkennen, dass die andere Seite keinen gedanklichen Spielraum mehr hat, etwas anderes zuzulassen als die eine Theorie, die ihnen ihre Informanten seit Jahren eintrichtern. Ich stelle mir also vor, wie das wäre, zu spüren, meine Liebsten im anderen Land wollen und können davon nicht ablassen, weil das Eingeständnis, der falschen Wahrheit zugesagt zu haben, zu schmerzhaft wäre. Wie traurig, wie verzweifelt würde mich das machen? Oder auch: wie aggressiv und destruktiv? Ich versuche mir all das vorzustellen und kann die meisten Antworten auf die Fragen nicht erkennen. Ich kann es mir leisten, sie nicht zu kennen, weil ich sie nicht kennen muss. Nein, man will sich den Krieg nicht vorstellen müssen. Aber eines muss ich: mir vor Augen halten, dass nichts selbstverständlich ist. Weniger denn je. 

Erstveröffentlichung: marie, Ausgabe April 2022