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Den Nebel rückwärts lesen

Einmal fuhren mein Mann und ich in den Tagen rund um den Jahreswechsel in die Schweizer Berge, um die Sonne zu finden. Das ganze Rheintal war dicht eingenebelt, meine Motivation eher mau – die anhaltenden Nebeltage hatten meine Sinne eingetrübt und mich am Sofa bücherlesend Wurzeln schlagen lassen. Die Schweizer Serpentinen hinauf kurvend schwor ich mir, nur auszusteigen, wenn wir das strahlende Blau erreichten.

Wir ließen bekannte Orte, allesamt nebelverhangen, hinter uns und wagten uns in Richtung Neuland. Aufmerksam studierte ich den Nebel. Bisweilen lichtete er sich fast schon verheißungsvoll, färbte sich da und dort gar in ein milchiges Ocker ein. Doch um uns herum blieb es grau, so als hätte der Tag lediglich Trübes im Sinn. Sodann ein Hinweisschild, zu schön, um wahr zu sein: Gasthaus Sonnblick. Wir setzten zurück und zweigten nach links ab, um dem Lockruf steil hinauf ins Himmelblaue zu folgen. Aber Nomen ist nicht immer omen, der Sonnblick entpuppte sich als falsches Versprechen, servierte Nebelsuppe statt Sonnenstrahlen. Wenig optimistisch setzen wir unsere wunderliche Reise fort. Und endlich, nach einer Stunde Fahrt, eine letzte Nebelmauer, sodann ein durchdringender, fast eisiger Blaustich, das Licht-Dunst-Gemenge immer klarer werdend und ein paar Kurven weiter: Sonne satt, dem Himmel so nah. Was für ein atemberaubender Moment. Dieses tiefe Blau, das Strahlen, die sanfte Sonnenwärme und der Blick hinunter auf ein Nebelmeer von fesselnder Schönheit. Das Ortsschild ließ uns fast augenzwinkernd wissen, wo wir gelandet waren: im Schweizer „Lachen“.

Manchmal ist man so nah dran. Manchmal wird man in die Irre geführt. Manchmal verlässt einen der Mut. Manchmal will man umkehren. Manchmal erobert man den Himmel. Und manchmal ist alles nur eine Frage der Lesart, denn dann und wann hat eben auch der Nebel sein Gutes. Auf gute Momente im neuen Jahr, mögen wir dem Nebel trotzen, ihn rückwärts lesend umarmen, in ihm tanzen und sich immer wieder und gerade jetzt im kalten Jänner an Rilke halten: „Freude ist einfach eine gute Jahreszeit über dem Herzen“.