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Halte dich an Wunder

„Aber im Winkel am Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit Lächeln um den Mund - tot, erfroren am letzten Tage des alten Jahres. Der Morgen des neuen Jahres ging über der kleinen Leiche auf, die mit den Schwefelhölzern, wovon fast ein Schächtelchen verbrannt war, dasaß. `Sie hat sich wärmen wollen!` sagte man. Niemand wusste, was sie Schönes gesehen hatte, in welchem Glanze sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war.“

Immer, wenn ich als Kind das Märchen vorgelesen bekam, hoffte ich inbrünstig, es möge sich noch eine Wende auftun. Es war schwer zu ertragen, dieses Gefälle zwischen bitterer Armut und der Fülle der Weihnachtszeit, die ja auch ich so sehr liebte. Wieso hatte ihr nicht einfach jemand die ganze Schachtel Streichhölzer abgekauft, damit sie in ihr dürftiges Zuhause zurückkehren konnte, mit ein paar Schillingen in der Hand? Wäre es nicht ein Leichtes gewesen, sie zu retten? 

Vielleicht ist es nur ein Märchen und freilich aus einer anderen, rauen Zeit. Die Sozialkritik hinter Andersens Erzählung kann man aber auch aufs Heute anwenden. Kinder sterben auf dieser Welt immer noch, weil sie nichts zu essen haben oder erfrieren. Das muss doch eine Gesellschaft bis ins Mark treffen. Ganz egal, ob das Kind in einem Slum, einem Flüchtlingslager oder im Grenzgebiet zu Europa stirbt. Manchmal ist das Mädchen mit den Schwefelhölzern auch schwer zu erkennen, vor allem, wenn es in unangenehmer Gestalt vor einem steht. Wie in jener des völlig verwahrlosten und schwer angetrunkenen Mannes, der letzthin in der Wiener U-Bahn in mein Abteil zustieg. Sein Anblick war unbequem und die Einsamkeit, die er ausstrahlte, herzzerreißend. Und ich zu feige, ihm auf irgendeine Art meine Hilfe anzubieten.

Niemand kann die Welt retten, aber wir können berührbar bleiben. Bei allem Unverständnis, bei aller Wut, bei aller Angst und allem Unbehagen, das uns gerade von allen Seiten durchdringt. Solange wir berührbar bleiben, ist Zuversicht angebracht. Und solange wir uns auch jene Geschichten erzählen, die uns in der Tiefe erreichen, dort, wo es um alles geht. Manchmal tut es dort weh, aber manchmal ermutigt dieser Ort auch, an gute Wenden und Wunder zu glauben. Ganz nach Mascha Kaléko: "Sei klug und halte dich an Wunder." Nicht nur zur Weihnachtszeit.

Editorial marie, Dezember 2021