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Stille

Stille-Gedanken zum Jahresanfang!

Es ist bereits ein paar Jahre her, ich erinnere mich gut an diesen einen, sehr besonderen Moment. Ich stapfte durch den Tiefschnee den Berg hinauf, den Rucksack geschultert und einen Korb voller Lebensmittel abwechselnd mal links mal rechts in der Armbeuge baumelnd. Ich hatte erst ein paar Höhenmeter geschafft und rang bereits nach Atem.

Die Luft war schneidend kalt und brannte in der Lunge. Im Bergwärtsgehen war ich noch nie eine Heldin gewesen. Erschwerend kam hinzu, dass mich jeder Schritt einen halben Meter im Schnee versinken ließ. Eigentlich ein wunderbares Naturerlebnis, aber gedanklich war ich noch in den mühsamen Stunden zuvor verhaftet. Ich wollte und konnte mich nicht einlassen. Ein anstrengender, Stress beladener Tag lag hinter mir, wieder einmal waren wir viel später als geplant aufgebrochen, dorthin, wo wir mit unseren drei Kindern eine Woche Winterferien verbringen wollten. Ein Privileg, natürlich. Ein großes. Und doch. Da stimmte etwas nicht. ICH war nicht gestimmt, meine Laune im Keller. Die letzten Wochen hatten sich einfach zu intensiv, zu belastend angefühlt. Ich schalt mich für meine Wehleidigkeit. Aber das Zuviel ließ sich nicht so einfach abschütteln. Und vor allem nicht einfach so.

Die Dämmerung war bereits in die Dunkelheit der Nacht übergegangen, der Mond gab ein wenig Licht ab. Es reichte gerade, sich nicht in der Nachtschwere zu verlieren. Unterwegs zu unserer gebuchten Berghütte, abseits der Straße, wenngleich auch nur einen überschaubaren Fußmarsch einen Hügel hinauf, überkamen mich Zweifel. War es das wert? Die Packerei, der Großeinkauf, die viele Arbeit, die zuhause liegen blieb, die gestohlene Zeit, die ich für diese Ferienwoche eigentlich gar nicht hatte? Das schlechte Gewissen verengte den Brustraum zusätzlich. Und erstickte jede Vorfreude im Keim. Auch die Aussicht auf Schneeflocken und Hüttenzauber konnte meinem Missmut nur wenig entgegensetzen. Irgendwo zog es ja doch immer zu einem Fenster herein. Ein Badezimmer ohne Heizung. All die Jagdtrophäen und ausgestopften Tiere an den Wänden. Am Morgen nur Filterkaffee. Gut, die Kinder freuten sich. Eigentlich. Soeben stapften auch die nur mäßig motiviert mehrere Meter hinter mir den Steilhang hinauf. ‚Mama, isses noch weit?‘, ‚Geht schon‘, ‚Aber ich kann nicht mehr‘. ‚Dann wartet auf den Papa.‘ Nur zu gerne übergab ich deren Quengelei an meinen Mann, der weiter unten dasSchlusslicht bildete und erfahrungsgemäß besser geeignet war als ich, kindlichen Unmut aller Art aufzufangen.

Bald konnte ich die Abzweigung zur Hütte ausmachen. Von hier war es nicht mehr weit und vor allem nicht mehr steil. Ich legte einen Zahn zu und als das kleine Häuschen in Sichtweite war, stellte ich beruhigt fest, dass die Besitzer bereits ein paar Holzscheite in den Ofen geworfen haben mussten, denn aus dem Kamin stieg eine dünne Rauchsäule empor. Auch einen schmalen Weg hatten sie für uns freigeschaufelt, gleich fühlte ich mich noch etwas leichter. Ein erstes „Will-Kommen-Gefühl“ klopfte bei mir an. Nur wenige Minuten später stand ich vor der Haustür, stellte mit einem Seufzer Rucksack und Korb ab, lockerte erst meine Schultern und streckte meine Arme dann gen Himmel durch. Bevor ich den Schlüssel fürs Haus aus dem Versteck holen würde, sollte sich erst in mir noch eine Tür öffnen. Nur ein paar Minuten des leisen Ankommens wollte ich mir schenken bis der Rest der Familie hinter der Gabelung auftauchen würde. Ich hielt inne. Den Kopf in den Nacken gelegt nahm ich endlich den Sternenhimmel wahr. So stand ich da, mausalleine, inmitten in der vom Mondlicht angestrahlten, tief verschneiten und mächtigen Bergwelt und plötzlich durchdrang sie meinen ganzen Körper, legte sich fast ohrenbetäubend auf meine Sinne und sprach zu mir: Die Stille. Die absolute Stille. Ich hörte: keinen einzigen Laut. Als hätte die Schneedecke alle Geräusche verschluckt. Was für eine sanfte Gewalt. Selbst die Winterluft fühlte sich nun milde an, die Dunkelheit friedlich und ich mich endlich von Dankbarkeit erfüllt. Dankbar für die Freiheit, hier sein zu dürfen. Für diesen einmaligen Eindruck der Stille. Für die sich ausbreitende Vorfreude in mir. Die kroch nämlich endlich von den Zehen bis in die Haarwurzeln hinauf. Gestillte Sehnsucht.

Es war, als hätte jemand einen Schalter in mir umgelegt. Still meine Saiten gestimmt. Plötzlich konnte ich es kaum erwarten, das Knistern im Kachelofen zu hören, in der Küche eine Suppe aufzusetzen und später gemeinsam mit den Kindern unter einer Wolldecke die Beine auszustrecken. Die Kühle im Badezimmer würde ich mit einer heißen Dusche wettmachen und zumindest dem Murmeltier an der Wand zur Begrüßung kurz zunicken. Und die Arbeit würde mich hier nicht verfolgen können, dem „Kein-WLAN-in-dieser-Unterkunft“-Versprechensei Dank. Es war gut, hier zu sein. Die Stille, die reine Stille hatte mich wieder zur Besinnung gebracht.

Dieses schlichte Dreiminutenerlebnis machte mächtig Eindruck auf mich. Bis heute. So nahm und nehme ich mir immer wieder fest vor, sie, die Stille, öfters aufzusuchen, sie meinem Zuviel und meinem Zweifel entgegenzusetzen und in ihren Großmut einzutauchen. In ihre Nachgiebigkeit mit mir und in ihre Verbundenheit mit unserem Kosmos. Und immer wieder ihre Einladung anzunehmen: nichts zu müssen, einfach nur zu sein. Stille zu finden ist allerdings gar nicht so einfach. Wo sind sie bloß, die Plätze, an denen es noch ganz, ganz still ist? Das Brummen einer Schnellstraße da, Geplapper und Musikgedudel dort, ein Rasenmäher läuft immer irgendwo. Wo sind die Orte, an den man ungestört von Lärm und Beobachtung für sich selbst sein kann? Heilige Orte zum All-Eins-Sein? Ich suche weiter. Neues Jahr, neue Chance.